SZ-Leaks: Schleichwerbung für Steuerhinterziehung

so viel zur Pressefreiheit 😉

klar und deutlich

Offshore-Leaks, Lux-Leaks und jetzt Swiss-Leaks: Die Süddeutsche Zeitung ist das Sturmgeschütz des Finanzamts. Die Redaktion veröffentlicht regelmäßig Informationen aus internen Bankunterlagen, an die sie durch Whistleblower kommt. Was die Zeitung nie erwähnt: Dass sie selbst ihre Leser auf die Steuerhinterziehung im Ausland hingewiesen hat und sich dafür von den Banken bezahlen ließ. Ich war damals in der Redaktion dafür zuständig. Es war das Jahr 2007, es war mein erster Job nach dem Studium und bis heute habe ich darüber geschwiegen.

Von Sebastian Heiser

„Man hört immer von einem Schweizer Nummernkonto, aber der Otto-Normal-Verbraucher kann sich da nicht viel drunter vorstellen“, sagt der Mitarbeiter der Anzeigenabteilung zu mir. Es ist Freitag, der 16. März 2007, ich arbeite seit acht Wochen in der Redaktion der Süddeutschen Zeitung. Der Mitarbeiter der Anzeigenabteilung hat zwei Kolleginnen und mich zu einem Termin geladen an einen Besprechungstisch am Rande ihres Großraumbüros. Thema des Treffens: Was…

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Wer schützt uns vor Abmahnern und den Datenschützern

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München. Einige Anwaltskanzleien verdienen viel Geld damit, dass sie Leute einschüchtern: mit Abmahnungen wegen angeblicher Urheberrechtsverstöße. Man habe, heißt es in einer Abmahnung der einschlägig bekannten Münchner Kanzlei Waldorf und Frommer, „illegal urheberrechtlich geschützte Werke im Internet heruntergeladen und weltweit verbreitet“:

„Im Rahmen der Ermittlungen wurde festgestellt, dass das Werk unserer Mandantschaft unter der aufgeführten IP Adresse weltweit allen Nutzern der Tauschbörse bittorent zu angegebenen Zeit zum Herunterladen angeboten wurde.“

Dann kommt der Titel des Films, der Name des Rechteinhabers, Datum und Uhrzeit der angeblichen Rechtsverletzung – hier: 26.12. 7 Uhr 17 Min. und 19 sek bis 7h 18:53. Wie man in weniger als 2 Minuten mit einem 16000er Internetanschluss einen Film herunterladen und zum weltweiten Teilen zur Verfügung stellen kann erklären die Herren Rechtsanwälte nicht. Auch fragen sie nicht, was der Beschuldigte zu den Vorwürfen zu sagen hat. Sie fordern sofort eine „strafbewehrte Unterlassungserklärung“ inklusive Geständnis und Geld: 956 Euro, beides binnen einer Woche.

Das Absurde: Diese Abmahnung traf eine allein lebende ältere Dame, die das Internet nur alle paar Tage mal nutzt, um das Kino- oder Theaterprogramm aufzurufen. Ansonsten DAU. Von Tauschbörsen, Filesharing und ähnlichem hatte sie in ihrem Leben noch nicht mal gehört, geschweige denn jemals online Filme angesehen, heruntergeladen oder geteilt. Ihr Computer war am zweiten Weihnachtsfeiertag um nachtschlafende 7 Uhr 17 ausgeschaltet, ihr Speedport-Router neu und WPA2-verschlüsselt.

Dennoch zahlt sich Dreistigkeit aus: Das Vorgehen sei legal, wie mir die Bundesnetzagentur und andere Experten bestätigt haben. Wenn nur jeder Hundertste aus Angst vor den angedrohten „rechtlichen Konsequenzen“ zahlt (egal ob der Vorwurf zutrifft oder nicht) hat sich der Aufwand für die Kanzlei schon gelohnt. Abzocke, an der sich in diesem Fall auch die Verbraucherzentrale Bayern beteiligt: Auf ihrer Internetseite bietet sie eine E-Mail-Beratung für Abmahn-Opfer an: Man schildert den Fall per Mail und bekommt eine Eingangsbestätigung von einer Münchner Anwaltskanzlei. Gemeldet hat sich diese erst nach diversen telefonischen Nachfragen. Die Leistung: Eine vorformulierte „modifizierte Unterlassungserklärung“, wie man sie problemlos auch auf mehreren Internetseiten frei zugänglich als Muster findet. Diese solle man per Einschreiben und Rückschein an die Abmahn-Kanzlei schicken. Die Verbraucherzentrale bucht für diese „Leistung“ 90 Euro vom Konto ab.

Die IP-Adresse haben sich die Abmahn-Anwälte vom Provider des Opfers geholt: in diesem Fall der Deutschen Telekom. Diese muss die Daten nach dem UrhG (Urheberrechtsgesetz) herausgeben (die anderen Provider genauso). Fragt dann der Kunde nach den selben Daten, antwortet die Telekom auf Mail-Anfrage nach zwei Wochen:

„Ihnen wird von einem Anwalt vorgeworfen, in einer Internet-Tauschbörse über sogenanntes Filesharing urheberrechtsgeschützte Inhalte angeboten zu haben. Wir verstehen gut, dass Sie dazu Fragen an uns haben, und haben Ihnen eine Übersicht mit den häufigst gestellten Fragen beigefügt. Da wir die zugewiesenen IP-Adressen nur für sieben Tage speichern, diese ggf. nach Eingang eines Gestattungsbeschlusses gesondert sichern und nur bis zum Abschluss der Verauskunftung vorhalten, können wir Sie leider nicht entlasten. Der Vorgang und die entsprechenden Daten werden nach einer Beauskunftung ordnungsgemäß vernichtet. Des Weiteren werden Angaben zu Ihren online Aktivitäten (getätigte Down- und Uploads, besuchte Internetseiten usw.) und zu Ihren genutzten Endgeräten (Mac-Adresse) grundsätzlich nicht gespeichert.

Grund: Datenschutz, genauer: das Verbot der Vorratsdatenspeicherung.

Anscheinend haben die Abmahner noch rechtzeitig innerhalb der 7-Tage-Frist bei der Telekom die IP-Adresse abgefragt. Die gibt die Infos heraus – und löscht den Datenbestand.

Ich habe zwei IT-Journalisten gefragt, ob sie über diesen Irrsinn eine Geschichte schreiben wollten. Beide haben mir mit vielen, vielen Tipps sehr geholfen (Danke!), meinten aber, das Problem sei bekannt, rechtlich nicht angreifbar und in den Redaktionen interessiere sich niemand (mehr) dafür. Meine Petition an den Gesetzgeber (Bundestag und Landtag NRW für eine entsprechende Bundesratsintiative) geht hoffentlich demnächst online. Ziel: Gesetzesänderungen, die diesen für die Opfer teuren und zeitraubenden Unsinn unterbinden. Warum sollen Unbeteiligte dafür haften, dass die Filmindustrie keinen funktionierenden Kopierschutz zustande bringt und die Betreiber der Tauschbörsen unerreichbar irgendwo im Ausland sitzen.

Der Staat im Netz

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Manchmal bringen mich Kunden auf Themen, die ich selbst noch nicht entdeckt habe:

Was treibt unser Staat im Netz? Gemeint sind nicht unsere „Verfassungsschützer“, die zehn Jahre lang nicht mitbekommen haben (wollen), dass Neonazis mordend durch die Lande ziehen. Gemeint sind die netten Leute in Rathäusern und Landratsämtern, die unseren Dreck wegräumen (lassen), uns frisches Wasser liefern, Personalausweise ausstellen, Bauten genehmigen und viele andere Dinge tun, von denen wir nur etwas mitbekommen, wenn es nicht funktioniert oder wenn wir etwas aus dem Rathaus brauchen.

E-Government heißt das neudeutsche Schlagwort für staatliche Dienstleistungen im Internet. Den Ausweis online verlängern, Bücher in der Stadtbibliothek ausleihen, die Unterlagen für den Bauantrag oder eine neue Mülltonne bestellen u.s.w.. Viele Städte, Kreise und andere Behörden basteln an technischen Lösungen. Kaum etwas davon passt zusammen. So verheddert sich unsere deutsche Kleinstaaterei im Internet.

Was in Coburg oder Bonn funktioniert, kennt in Erlangen kaum jemand und was für Hamburger selbstverständlich ist, hat in Kiel noch niemand gehört (oder umgekehrt).

Lernen können wir von unseren Nachbarn:

In Estland ist der ganze Staat längst online. Die Leute wählen im Netz, zahlen ihr Parkticket per Mausklick (oder Handy-App) und mehr.

Auch die Österreicher (ja, die Ösis ;-)) sind weiter: Da kann man sich online mit dem Handy ausweisen und Anträge stellen, für die man in Deutschland immer noch ein ausgedrucktes Papier mit Original-Unterschrift braucht.

Niederländische Gemeinden und Provinzen haben zusammen mit der Zentralregierung einen Sozialwegweiser online gestellt, der Hilfesuchenden per Mausklick und Verlinkung auf die richtige Spur bringt. Den verstehe sogar ich als DAU (Dümmster Anzunehmender User 😉 , der Niederländisch nur rudimentär lesen kann.

Der Ansätze, Ideen und Konzepte sind es so viele, dass meine Recherche zum Thema ein vom Abgabetermin erzwungenes Ende finden wird. Wie bei den meisten komplexen Themen muss ich einen Text in dem Gefühl schreiben, noch längst nicht genug darüber zu wissen.

Viele Experten, die sich mit dem Thema befassen, wollen mehr als ein Rathaus im Internet: Open Data. Städte, Gemeinden, Land und Bund sollen ihre vielen Informationen frei zugänglich für alle ins Netz stellen. Dagegen steht (angeblich oder tatsächlich) der Datenschutz. Wer schützt da wen wovor….?

Das gefällt mir am Journalismus. Ich suche Antworten auf Fragen, die ich mir noch gar nicht gestellt habe 😉

Lesen ist gut, nachfragen ist besser

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Mons, Belgien. Seit Tagen berichten alle Zeitungen vom Kunstwerk „The Pessanger“, das in Mons, der Europäischen Kulturhauptstadt 2015, angeblich eingestürzt sei. Die 16 Meter hohe und 85 Meter lange Holzlattenkonstruktion sei zusammengebrochen, hieß es in den Meldungen, verbreitet u.a von der dpa. Ich habe zufällig heute mit dem Leiter der Kulturhauptstadtstiftung Mons 2015 Yves Vasseur wegen meiner Reportage aus Mons telefoniert und nachgefragt, was genau passiert ist: „Nicht viel, etwa fünf Prozent des Werks sind abgebrochen“, sagte er. Die Konstruktion habe der Künstler auf eigene Kosten repariert. Einziger Schaden: Eine Fensterscheibe ist zerbrochen. Die bezahle die Versicherung. Mehr nicht. Wenn die lieben Kollegen in den Zeitungen schon aus einer solchen Mücke eine ganze Elefantenherde machen, wüsste ich gerne, wie „wichtigere“ Sensationsnachrichten entstehen….

Wer schreibt (und fotografiert), der bleibt…..

So schee scho - der Reiseblog

…. am besten bei mir im meinen Workshops Reisejournalismus und Reisefotografie im Februar 2015 in Valencia – einer meiner Lieblingsstädte, weil so voller Spannung und Widersprüche. Weitere Infos und Anmeldung hier. Ich freue mich auf Euch / Sie!

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Neue Erfahrung auf der anderen Seite des Mikrofons und der Kamera

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Während ich seit Tagen meine O-Töne aus Belfast verschrifte, die Fotos von dort bearbeite und die ersten Reportagen schreibe, hat mich eine spannende Begegnung mitten ins Bielefelder Lokalgeschehen katapultiert. Stefan Brams, der freundliche Kulturchef der Bielefelder Regionalzeitung „Neue Westfälische“ hat über den Sommer Bürgerinnen und Bürger der Stadt zum Gespräch über die Zukunft der Stadt „ins Holzhaus“ eingeladen.

Nach Bielefeld

Als ich das Angebot im Juli gesehen hatte, habe ich mich gerne gemeldet. Nach (mit Unterbrechungen) 32 Jahren in der heimlichen Hauptstadt das vermeintlichen Niemandslands zwischen Dortmund und Hannover fällt mir doch einiges zu dieser Stadt ein. Eine gute Gelegenheit, dies nun dem Redakteur und damit der Bielewelt kund zu tun.

Nachtansichten  / Night Views

Das Holzhaus, ein Kunstwerk japanischen Architekten Sou Fujimoto, steht seit einigen Jahren im Bielefelder Kunsthallenpark. Vor dem strömenden Regen haben wir uns mit Schirmen und Sitzkissen unter das Plexiglasdach des inzwischen auch von innen nass gewordenen Kunstwerks zur Plauderei über Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit der freundlichen Baustelle am Teutoburger Wand verkrochen. Die Fotografin hatte alle Mühe, uns in der Enge passend vor die 24mm-Linse zu bekommen. Für mich war es ein völlig neues Gefühl, selbst interviewt und fotografiert zu werden. Das kenne ich sonst nur aus der Perspektive des Fragenden und Knipsenden.

Völlig begeistert bin ich nicht, von dem, was der liebe Kollege aus dem Gespräch gemacht hat (das Foto ist ja so groß im Blatt, dass für den Text nicht mehr so viel Platz blieb), aber ich hoffe, die wesentliche Botschaft kommt an: Vielen Menschen in dieser Stadt fehlt Selbstbewusstsein, Stolz auf ihre Heimat und die Leidenschaft für den Ort, an dem sie leben. Gerade meine jüngste Erfahrung in Belfast, dieser über so viele Jahre vom Bürgerkrieg gequälten Stadt, hat mir an diesem Punkt die Augen geöffnet: So viele Menschen dort begegnen ihrer Stadt mit Achtsamkeit, Engagement und (möglichst konstruktiver) Kritik. Davon möchte ich den Bielefelder/innen etwas mitbringen. Hier haben wir Schätze, die mir viel zu wenig wahrgenommen werden: Engagierte Menschen in Kunst, Kultur, Sozialem….

P.S.: Dass unsere Stadt „schlecht verwaltet“ wird (wie die Zwischenüberschrift behauptet) habe ich nicht gesagt.

illuminiertes Rathaus

Wirklich gutes Stadtmanagement sehe ich hier allerdings auch nicht ;-).

 

mit herzlichem Dank an die Redaktion: 2014_08NW_Holzhausgespraech

Bewirkt hat die Veröffentlichung schon etwas: Gleich heute Morgen hat mich der Vorsitzende des Fördervereins der Bielefelder Kunsthalle angeschrieben. Er möchte gerne mit mir sprechen. Mache ich natürlich gerne. Ich bin sehr gespannt auf das Gespräch….

vollständig

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Foto: Robert B. FishmanSieht nach viel, viel Arbeit aus… Radiosendung fertig produziert, entspanntes Arbeiten im WDR-Landesstudio mit einem exzellenten Techniker, Gute-Laune Sommer in der Stadt.

O-Ton Michel Grosz, von dem meine Radioreportage u.a. erzählt: „ Wenn man sich bei dem, was man macht, gut fühlt, hat man seine wahre Aufgabe gefunden. Man fühlt sich…Schalem…Schalom auf Hebräisch kommt von Schalem. Schalem heißt, dass man sich vollständig fühlt. Genau so ist es an guten Tagen wie heute….

So, jetzt sind Jogis Jungs dran. Die ersten 20 Minuten sehen schon gut aus.

Bilderreisen ganz nah

So schee scho - der Reiseblog

Lumix Fotofestival 2014

Bin wie erschlagen von den Reisen in – oft erschütternde – Welten auf dem Lumix-Fotofestival. Auf wenigen hundert Quadratmeter geht es zu dem Krokodil-Junkies in Jekatrinenburg, ins immer noch geteilte Belfast, zu heimlich feiernden Jugendlichen im Iran oder ins Leben einer Prostituierten in der dänischen Provinz. Großartige Fotoreportagen, nah, aber nie entblößend, dicht und einfühlsam.

Lumix Fotofestival 2014
Das Festival ist leider vorbei, aber vieles steht noch im Netz, auch die spannenden Vorträge großer Fotograf/inn/en. Nächstes Lumix-Festival: Juni 2016. In diesem Sinne:

(Zitat von Almut Adler)

Lumix Fotofestival 2014

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Free Riga – mein Beitrag in der „ran“

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Das Jugendmagazin ran hat meinen Beitrag über „Free Riga“ veröffentlicht: ran_FreeRiga_Beleg

Foto: Robert B. Fishman, ecomedia,

Trotz steigender Immobilienpreise stehen selbst in besten Innenstadtlagen von Riga dutzende Häuser leer. Gleichzeitig suchen Künstler und junge Start-Up-Unternehmer dringend preiswerte Räume. Die Initiative Free Riga 2014 will potenzielle Mieter mit den Eigentümern der leerstehenden Objekte zusammenbringen.

Jenseits des Kronwald-Parks mit seinen Wasserläufen und den uralten Bäumen reihen sich am Rande der Rigaer Altstadt die Botschaften der großen westlichen Länder aneinander: Prächtige Stadtvillen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Marcis Rubenis zeigt im kalten Nieselregen auf ein großes Eckhaus. Russ und Dreck der Jahre haben die stuckverzierte Fassade braun-grau gefärbt. Auf den dunklen Fenstern kleben runde, handtellergroße Aufkleber mit der Aufschrift „Occupy Me“, besetze mich. Das ehemalige lettische Inneministerium steht seit Jahren leer.

Marcis beobachtet das fünfstöckige Eckhaus in bester Lage seit langem: Die Stadt habe es 2006 an eine Firma vermietet, die hier ein Hotel bauen wollte. Dass diese “Spitzenimmobilie immer noch leer steht, während in der Kunstakademie nebenan Studenten dringend Räume für Ateliers und Ausstellungen suchen“ findet nicht nur Marcis „unfair. Hier funktioniert der Markt nicht“, analysiert der studierte Volks- und Betriebswirt.

Foto: Robert B. Fishman, ecomedia,

Marcis Rubenis spricht Deutsch, Russisch und fließend Englisch. Sein Wirtschaftsstudium habe ihm „zu wenig gebracht“, sagt der 28jährige ohne überheblich zu wirken. „Ich nehme jetzt an Businesswettbewerben teil, habe schon einige gewonnen und lebe von meinen Projekten“, erklärt er und ergänzt lächelnd „I am a not yet come true Bill Gates Story“, frei übersetzt „eine noch nicht verwirklichte Bill Gates Geschichte“. Derzeit schreibt er seine Bachelor-Arbeit zu Ende.

Letztes Jahr ist er vier Monate durch Europa gereist und hat dann Rigas ersten Co-Working-Space eröffnet. Viele Anregungen habe er aus Berlin mitgebracht. Die vielen verschiedenen, kreativen Menschen dort hätten ihn inspiriert. In einer großen Wohnung vermietet Marcis Arbeitsplätze stunden-, tage-, wochen- oder monatsweise an kreative Unternehmerinnen und Unternehmer. Wer mag, entwickelt hier mit Gleichgesinnten Ideen und sucht die neudeutsch so genannten Synergien: Arbeiten in kreativer Umgebung zu bezahlbaren Preisen.

Marcis war nicht der einzige, der sich über die vielen leerstehenden Häuser in der Rigaer Innenstadt wunderten. Ein paar Leute fanden sich zur Initiative Free Riga 2014 zusammen und ließen 5000 „Occupy Me“ – Aufkleber drucken. In einer Septembernacht klebten die Aktivisten 2000 davon auf rund 100 leerstehende Häuser. „Mit Hausbesetzungen hat das nichts zu tun“, versichert der junge Mann mit dem schmalen Gesicht. „Mit der Aktion wollten wir testen, wie die Leute reagieren.“

Nach ein paar Tagen zählte der Aufruf von Free Riga, ungenutze Räume für kulturelle und soziale Initiativen zu öffnen, fast 3000 „Likes“. An die 1000 Nutzer verbreiteten die Seite weiter. In einer Stadt mit 700.000 Einwohnern ist das eine Menge.

Inzwischen zeigt der Internet-Stadtplan der Initiative unter www.freeriga2014.lv fast 400 ungenutzte Gebäude. Und täglich zeichnen Leute weitere ein. Eine Mitstreiterin arbeitet in der Immobilienabteilung einer Bank. Sie habe bisher 120 der Einträge überprüft und die Hausbesitzer ausfindig gemacht. Free Riga will eine Plattform schaffen, auf der mögliche Nutzer und Eigentümer zusammenfinden.

Nach einem Fernsehbericht wollten „Banken und Unternehmen wissen, was da los sei“, erzählt Marcis. Erwartet hatten die Aktivisten „Gegenwind“. Das Gegenteil passierte. Das Liegenschaftsamt lud sie zum Gespräch ein. „Die waren aufgeschlossen.“ Die Stadt will nun die Steuern auf ungenutzte Immobilien erhöhen, um die Eigentümer zum Vermieten oder Verkaufen zu bewegen.

„Die Besitzer sind gar nicht die Bösen“, sagt Marcis. Erst vor ein paar Tagen habe Free Riga eine Mail eines Hausbesitzers bekommen, der Nutzer für sein leerstehendes Gebäude sucht. Andere warteten auf den nächsten Immobilienboom, der die Preise wieder nach oben treibe.

Die Wirtschaft erholt sich allmählich von der schweren Krise. Nach Schätzungen der EU-Kommission wird Lettland 2014 wieder mit rund vier Prozent die höchste Wachstumsrate in der Europäischen Union ausweisen.

Gnadenlos hat die konservativ-liberale Regierung ihr Land für den Eurobeitritt am 1. Januar diesen Jahres zurechtgespart. Nach dem Wirtschaftsboom zu Beginn des Jahrtausends verlor Lettland in der Finanzkrise von 2008 bis 2010 mehr als ein Fünftel seiner Wirtschaftskraft.

Zuvor hatten die drei baltischen Länder einen beispiellosen Wirtschaftsboom hingelegt. Wie im Westen hatten Banken großspurig Immobilienkredite verteilt. In Riga und dem vor allem bei russischen Investoren beliebten Seebad Jurmala schossen Luxusapartments und Villen wie im Spätsommer die lettischen Pilze aus dem Boden. Die inzwischen unter Schutz gestellten historischen Holzhäuser am südwestlichen Stadtrand Rigas sollten Wolkenkratzern weichen.

Die steigenden Immobilienpreise würden, so die Hoffnung, die Kredite refinanzieren. Geplatzt ist die baltische Blase wie die in Großbritannien, Spanien oder den USA.

Marcis berichtet von Entwürfen für 15 Bürotürme, deren Pläne den Gesetzen widersprochen hätten. Eigentlich dürfe niemand höher bauen als 112 Meter. Das Maß geben die Türme der Peterskirche in der Altstadt vor. Über Nacht hätten die Bauherren der Wolkenkratzer ihre Pläne noch geändert, bis eine Bürgerinitiative den Schmuh aufgedeckt und das Projekt gestoppt habe.

Die Regierung reduzierte nach dem Absturz der lettischen Wirtschaft die Ausgaben und erhöhte die Steuern. Fast jeder dritte Staatsangestellte verlor seinen Job. Staat und Privatwirtschaft kürzten die Gehälter um bis zu 40 Prozent. Die offizielle Arbeitslosenquote stieg auf 19 %.

Die Radikalkur freut zumindest die Wirtschaftsstatistiker: Lettland schaffte auf Anhieb die so genannten Maastricht-Kriterien: Die Staatsschulden liegen bei 42 Prozent der Wirtschaftsleistung. In Deutschland sind sie fast doppelt, in Griechenland mehr als drei Mal so hoch. Der Anteil der staatlichen Neu-Verschuldung am Bruttosozialprodukt betrug 2013 1,3 Prozent, deutlich weniger als die im Vertrag von Maastricht erlaubten drei.

Die Kehrseite: Fast 300.000 Menschen, mehr als zehn Prozent der Bevölkerung, zogen seit 2007 auf der Suche nach Arbeit in den Westen. Kinder blieben bei den Großeltern zurück. Auf dem Land leben kaum noch junge Leute.  Auch aus der Hauptstadt Riga sind mehr Menschen weg- als zugezogen.

Foto: Robert B. Fishman, ecomedia,

Nach den vielen positiven Reaktionen auf ihre Internetseite und die Aufkleber fragten sich die Aktivisten von Free Riga, ob sich  genügend Interessenten für die vielen leerstehenden Gebäude finden würden: „Mehr als 60 Vereine, Initiativen und Unternehmer haben sich mit ihren Wünschen und Ideen bei uns gemeldet“, berichtet Marcis: Einer möchte eine Fahrrad-Selbsthilfewerkstatt mit Café eröffnen, andere einen Upcycling-Workshop in dem aus alten Sachen neue entstehen sollen. Theatergruppen, Künstler und Leute, die ein Kino einrichten möchten, haben ihr Interesse bekundet.

„70 Prozent sind Träumer“, analysiert Marcis in seiner nüchternen, trockenen Art, aber die anderen 30 Prozent „echte Macher“. Er würde gerne ein kreatives Kulturzentrum eröffnen, in dem all die Dinge Wirklichkeit werden können, „die die kapitalistische Gesellschaft mit ihrer Marketing-Propaganda“ links liegen lässt: Wiederverwertung gebrauchter Dinge oder ein Markt, in dem die Städter frische Produkte direkt von den Bauern aus der Umgebung kaufen können. Ideen gibt es reichlich. Leerstand auch.

Die „Jugend von heute“

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Berlin. Mehr als 30  junge Leute sind zu meinem Workshop „ABC des journalistischen Schreibens“ auf der LiMa gekommen, viele Fragen, Anregungen, Ideen und fast alle haben beeindruckende Texte geschrieben. Die Arbeit mit so klugen, engagierten Menschen habe ich sehr genossen. Danke Euch, freue mich aufs nächste Jahr…..

„Das Schweigen brechen“: Soldaten dokumentieren die Besatzung

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Israels Armee ist gut organisiert. Auf meine Frage nach den Vorwürfen der israelischen Organisation „Shovrim Shtika“ („Das Schweigen brechen“) kommt prompt der versprochene Rückruf aus Jerusalem: In perfektem Deutsch lässt mich der Pressesprecher des „European Desk“ der IDF (Israeli Defense Forces, Israelische Verteidigungskräfte, wie die Armee offiziell heißt)  wissen, dass diese Geschichte „erfunden und erlogen“ sei.

Unter dem Motto „Das Schweigen brechen“ haben sich israelische Soldaten und Offiziere zusammen getan, die in Hebron gedient haben. In Ausstellungen, Vorträgen und auf Führungen durch die umstrittenste Stadt im Westjordanland berichten sie von ihren Erfahrungen als Besatzer.

In Hebron beschützen 650 Soldaten ein paar hundert jüdische Siedler, die mitten unter rund 180.000 Arabern (Palästinensern) leben. Frommen Juden und Muslimen ist Hebron heilig. Im „Grab des Patriarchen“ ruht unter anderem der gemeinsame Stammvater Abraham.  Nach jüdischer Überlieferung gründete König David hier sein erstes Reich, bevor er später nach Jerusalem zog. „Gott hat uns dieses Land versprochen. Deshalb müssen wir hier leben“, behaupten viele der jüdischen Siedler (längst nicht alle) und verweigern deshalb jede Verhandlung über das „biblische Kernland Judäa und Samaria“, wie sie das Westjordanland nennen.

Im Februar 1994 erschoss ein aus den USA eingewandertes Mitglied der rechtsradikalen Kach-Bewegung in der Ibrahim- (Abraham-) Moschee am „Grab der Patriarchen“ 29 (andere Quellen nennen 39 oder 52 Tote und 150 Verletzte) betende Palästinenser. Die Israelische Armee verhängte darauf hin eine zweiwöchige Ausgangssperre über die arabische Bevölkerung in Hebron, die nicht für die jüdischen Siedler galt.

Internet und Zeitungen sind voll mit Berichten über Siedler, die arabische Kinder auf dem Schulweg mit Steinen und Müll bewerfen und den palästinensischen Bauern ihre Olivenbäume zerstören. „Einmal haben uns Siedler mit Ziegelsteinen beworfen, als wir eine Delegation der deutschen F.D.P. durch Hebron geführt haben“, erzählt Yehuda Shaul, Mitbegründer der Gruppe „Das Schweigen brechen“. Die Soldaten hätten dabei zugesehen. Für Taten der Palästinenser sei nach dem Militärrecht die Armee zuständig. Gegen Ausschreitungen israelischer Zivilisten, also der Siedler, müsse de Polizei vorgehen. Doch die „traut sich normalerweise nicht in die Siedlungen.“ Shaul selbst habe gesehen, wie deren Bewohner Polizisten zusammengeschlagen hätten.

Yehuda, 31, ist nach Tel Aviv gekommen, um mir von seiner Arbeit zu erzählen: Ein Bär von einem jungen Mann. Er spricht klar und deutlich in perfektem nordamerikanischen Englisch. Seine Eltern stammen aus Kanada und den USA. Manche seiner deutlichen Worte unterstreicht der Reserve-Offizier mit einer deutlichen Handbewegung. Er scheint genau zu wissen, was er sagt und was er will.

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Wir sitzen im 18. Stock auf dem Balkon des Dan Panorama Hotels am Strand von Tel Aviv. Die Lichter der Stadt glitzern auf dem Wasser. Unten auf der Promenade gehen ein paar Leute spazieren. Ein freundlicher Kellner bringt Getränke. Tel Aviv ist für viele Israelis wie eine Insel, eine entspannte, lebensfrohe  „Bubble“ (Blase), bunter, fröhlicher und toleranter als der Rest des Landes. Die Schwulenszene der Stadt lockt viele Touristen aus dem In- und Ausland.  Während Homosexuelle hier in den Bars und auf den Straßen ungestört feiern können, haben Religiöse in Jerusalem die erste dortige Gay Pride vor ein paar Jahren angegriffen.

Am Nebentisch genießt ein junges Pärchen den romantischen Abend. Je mehr Yehuda aus Hebron erzählt, desto kritischer werden die Blicke unseres Tischnachbarn. Das Westjordanland liegt in einer anderen Welt: Rund 30 Kilometer sind es von hier zur ehemaligen Grenze. Die meisten Israelis waren noch nie dort – oder kennen die (besetzten) „Gebiete“ nur aus ihrer Armeezeit, wenn sie dort als Soldaten im Einsatz waren.

Mir fällt mein letzter Besuch in Israel wieder ein. Damals, während des Gaza-Kriegs 2008/09, habe sich die Kinder einen Ausflug in den Freizeitpark nach Rishon le Zion gewünscht. Auf der Autobahn wurde mir immer mulmiger. Erstmals schlugen damals Raketen aus Gaza in Ashdod und Ashkelon ein, keine 30 Kilometer südlich. Im Park merkte ich nichts vom nahen Krieg. Familien setzten sich gemütlich nach draußen zum Essen, die Kinder fuhren in den Karussells und Achterbahnen, quengelten und spielten wie in jeder beliebigen europäischen Stadt. Gäbe es eine Weltmeisterschaft im Verdrängen, würde wahrscheinlich ein Israeli gewinnen. Anders kann man in dem winzigen Land zwischen den Raketenbasen in Gaza, den Hisbollah-Stellungen im Libanon, dem Bürgerkrieg in Syrien und dem besetzten Westjordanland wohl nicht überleben.

„Jede Gesellschaft“, diagnostiziert Yehuda Shaul, „hat ihre Tabus, die sie in den Hinterhof verbannt, um nicht hinsehen zu müssen.“ In Israel sei dies die Besatzung. „Aber vier Millionen Palästinenser, zweieinhalb Millionen im Westjordanland und anderthalb Millionen in Gaza, werden nicht einfach verschwinden.“

 Shaul versteht sich nicht als Pazifist. Voller Überzeugung sei er zur Armee gegangen. Die Besatzung allerdings müsse Israel beenden. „Entweder wir ziehen ab oder wir geben den Palästinensern die gleichen Rechte wie unseren Leuten“, findet er. „Unser Job“, sagt er über „Das Schweigen brechen“, „ist der des Spielverderbers.“ Die meisten Menschen schauten lieber zum Fenster hinaus als in den Spiegel. Die israelische Gesellschaft habe ihre jungen Leute als Soldaten ins Westjordanland geschickt.  „Wir haben den Job für Euch gemacht. Jetzt sollt ihr auch wissen, was da draußen passiert.“ Die israelische Armee habe Hebron für die Siedler in eine Geisterstadt verwandelt. Manchen Altstadtbewohnern habe man „aus Sicherheitsgründen“ die Haustüren versiegelt, so dass sie nur noch über ihre Dächer nach draußen kämen. So genannte „sterile“ Straßen dürften Palästinenser nicht mehr betreten.

Die Soldaten hätten den Befehl, „die Besatzung spürbar machen“. Rund um die Uhr patroullierten sie durch die Stadt, machten nachts Lärm und seien angewiesen, wahllos mitten in der Nacht palästinensische Häuser zu durchsuchen: „Leute aus den Betten scheuchen, die Männer auf die eine Seite, die Frauen auf die andere, alles durchsuchen und wieder gehen“. Wir hatten Befehl, sagt Yehuda Shaul „den Alltag der Leute zu stören, sie die Besatzung spüren lassen und den Palästinensern das Gefühl zu vermitteln, dass sie ständig gejagt werden.“

Einen solchen Befehl gebe es definitiv nicht, versichert mir dagegen der Armeesprecher: „Das ist erfunden und erlogen.“ Shaul habe vor 14 Jahren in Hebron gedient. Seitdem habe sich viel geändert.

Du kennst doch den Nahen Osten?“, ergänzt der IDF-Mann. „Da erzählen doch so viele Leute so vieles, was sie selbst nicht wissen und was nicht stimmt.“

Valencia: Auf der Route der Verschwendung

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meine Reportage aus Valencia in der taz

Valencia will meer

Von Robert B. Fishman

Sandstrand bis zum Horizont, ein abrissbedrohtes Fischerdorf, die angeblich größte Altstadt Spaniens, gesäumt von Alleen mit bis zu neun Etagen hohe Jugendstilbauten, eine Stadt der Wissenschaft und Künste, leerstehende Neubauviertel, eine Lagune, in der Reis und Aale gedeihen. In Valencia gibt es auch Haie, Hyänen und Pinguine, ein unvollendetes Mega-Stadion, einen halben Hafen ohne Schiffe, eine „Route der Korruption und Verschwendung“ und einen Park im Fluss

ehemaliges Fischerviertel El CabanyalValencia. Ein- bis zweistöckige Würfelhäuschen reihen sich an Gassen, die schnurgerade parallel zum Strand verlaufen. „Hasta Francia“, „bis nach Frankreich“ heißt der nördliche Teil des Cabanyal, das landeinwärts mit Valencia zusammengewachsen ist. Viele der Häuschen tragen auf ihren Fassaden bunte Kacheln. Simse und Giebel sind mit Stuck verziert. „Modernismo Popular“, volkstümlichen Jugendstil nennen sie hier den wilden Stilmix. Mit einfachem Baumaterial versuchten die Fischer im Cabanyal vor rund 100 Jahren den aufwändigen Baustil der reichen Stadtbürger nachzuahmen.ehemaliges Fischerviertel El Cabanyal

Mit Zitronen gehandelt

In Valencia war ein Bauboom ausgebrochen.  Dank effektiverer Anbaumethoden lieferte das fruchtbare Umland drei Ernten im Jahr. Zitronen und Orangen aus Valencia verkauften sich über neue Bahn- und Schiffsverbindungen auch im Ausland bestens. Händler und Großgrundbesitzer demonstrierten ihren neuen Wohlstand mit aufwändig verzierten Fassaden im damals aktuellen Jugendstil. Rund um die Altstadt mit ihren engen Gassen säumen die prächtige Bauten aus jener Zeit die breiten Alleen und palmengesäumten Plätze.

ehemaliges Fischerviertel El CabanyalIm bescheiden gebliebenen Cabanyal stellen immer mehr Anwohner Tische und Klappstühle auf den Placa de la Creu, den Kreuzplatz. Aus koffergroßen Taschen und Tüten holen sie Brot, Wein, Salate und andere Leckereien.  Mit einem großen gemeinsamen Essen protestieren die Nachbarn  gegen die Zerstörung ihres Viertels.

Peter, pensionierter Lehrer aus Hamburg, hat sich in Valencias einstigem Fischerkiez seine zweite Heimat eingerichtet. Seit 15 Jahren kommt er regelmäßig.  Er engagiert sich gegen die Pläne der Stadt: Die seit 1991 regierende Bürgermeisterin will die vierspurige Avenida de Blasco Ibanez bis zum Meer verlängern. Das Zentrum des Cabanyal versperrt den Weg.

Bei Wein, Brot, Käse, Oliven und Empanadas erzählt Peter die Geschichte des Viertels in Spaniens am höchsten verschuldeter und angeblich korruptester Stadt. Karin, die lange an der deutschen Schule unterrichtet hat, kommt dazu. Der Platz füllt sich. Gemeinsam holen wir noch ein paar Stühle aus ihrer Wohnung in der Nähe. Die gelb leuchtenden Straßenlaternen tauchen die leeren Strassen in unwirkliches, fast gespenstisches Licht.

Karin wohnt in einem dreistöckigen Haus, das die Stadt schon zum Abriss frei gegeben hat. An den verwitterten Wänden, von denen der Putz bröckelt , markieren braune und beigefarbene Streifen die geplante Schneise. Eingänge in der Nachbarschaft sind zugemauert. Das Viertel verfällt, obwohl sehr viele Gebäude unter Denkmalschutz stehen. Nachdem ein Obergericht in Madrid die Baupläne gestoppt hat, genehmige die Stadt keine Renovierungen mehr.

Wohnungssuchende besetzen leerstehende Gebäude. Immer mehr der in Valencia gestrandeten Roma – Familien aus Rumänien und Bulgarien finden hier ein Notquartier. Anwohner klagen über Verfall, Schmutz und „die Zigeuner“. 400 Häuser mit rund 1600 Wohnungen habe die Stadt gekauft, um sie abzureißen. Inzwischen sei ihr das Geld ausgegangen.

An manchen Fassaden fordern Transparente den Bau des neuen Boulevards. „Das ist eine Initiative des Partido Popular, der regierenden konservativen Volkspartei“, erklärt Emiliano. In seiner Bodega Casa Montana  serviert er teuren Wein aus Eichenfässern und feine Tapas.

ehemaliges Fischerviertel El CabanyalFür den Cabanyal hat Emiliano viele Ideen: Aus den kleinen ehemaligen Fischerhäusern ließen sich zum Beispiel Studentenapartments machen. Viele der rund 100.000 Studierenden suchen eine Bleibe. Rund 20.000 von ihnen pendelten jeden Tag in die Stadt. Auch für alte Leute seien die flachen, einstöckigen Häuschen geeignet, oder für Ferienwohnungen für die zahlreichen Touristen, die nach Valencia kommen.

Zu Zeiten des faschistischen Diktators Franco ging Emiliano 1973 zum Studieren nach Deutschland und in die Niederlande. Als er dort zum ersten Mal eine Demonstration sah, bei der die Polizisten friedlich am Straßenrand standen, wurde ihm klar: „Ich will in einem demokratischen Land leben“.  Wenig später erfüllte sich sein Wunsch. Franco starb 1975.

Spanien öffnete sich. „In vielen Köpfen“, meint Emiliano, „ist der Bürgerkrieg immer noch nicht zu Ende“.  Valencia war 1939 die letzte Bastion der spanischen Republik. Italienische Kriegsschiffe bombardierten die Stadt. Viele Geschosse schlugen in der Nähe des Hafens im republikanischen Cabanyal ein.

Emiliano, 58, sieht sich als einen der wenigen „linken Unternehmer“ in der Stadt. „Etica es rentable“, ethisches Wirtschaften lohne sich. Der Mann mit dem grauen Bart überlegt, bevor er seine Sätze ausspricht. Eine Zeit lang war er Vorsitzender der Valencianischen Kaufmannschaft. Dort erfuhr er, dass sich die meisten seiner Kollegen nicht für Politik interessierten. Die sei „schmutzig“. Deshalb wolle man damit nichts zu tun haben. So sei es der Bürgermeisterin leicht gefallen, den kleinen Händlern im Cabanyal Aufschwung Wohlstand zu versprechen, wenn die neue Avenida zum Meer gebaut würde.

Der lässt auf sich warten. Spanien steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise: 56 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Viele Hochschulabsolventen ziehen wieder zu ihren Eltern und Großeltern, weil sie keinen Job finden. 700.000 Spanier sollen das Land auf der Suche nach Arbeit seit 2008 verlassen haben.

Mit einem Lächeln kreativ durch die Krise

Andere schaffen sich selbst eine Perspektive, eröffnen Bars oder wie die drei Italiener im  angesagten Stadtteil Russafa ein Kulturcafé mit Bücherei. Wer mag, kann sich die Bücher ausleihen oder Konzerten und Lesungen lauschen. Wichtigste Branche ist wie fast überall in Spanien der Tourismus: Vintage Tours nennt sich das junge Unternehmen, das Ausflüge mit einem vierzig Jahre alten VW-Bus im Hippie-Stil anbietet. Viele der Start-Ups kooperieren . Nach der Vintage-Tour in die stille Lagune Albufera am Stadtrand und einem Bootsausflug gibt es bei The Workshop einen Paella-Kochkurs. Gemeinsam mit dem Kursleiter gehen die Gäste in der 100 Jahre alten Markthalle, einer der größten Europas, nebenan einkaufen. Hier erfahren sie, welche Zutaten eine gute Paella ausmachen: Ganz bestimmte Bohnen, die es nur hier gibt, die richtige Sorte valencianischen Reis, Hühnchen und Kaninchen. Zwei Stunden und viele Erklärungen später dampft eine selbst gekochte leckere Paella auf dem Tisch.

ehemaliges Fischerviertel El CabanyalIm Cabanyal spielen an einem Klapptisch auf dem Bürgersteig vier Männer Karten. Sanches, der Kartenspieler mit dem Schnauzbart und Pranken wie ein Bär hat eine Zeit in der Schweiz gearbeitet. Mühsam kramt er ein paar Brocken Deutsch aus seinem Gedächtnis. Er erzählt, dass die Leute hier die valencianischen Fallas pflegen. Zahlreiche Vereine bereiten in Valencia das größte Fest der Region vor. Mitte März tragen die Leute von Künstlern gestaltete Riesenpuppen aus Stoff und Pappmaché in Prozessionen durch die Straßen, um sie anschließend symbolisch für das Ende des Winters und die Vertreibung der bösen Geister zu verbrennen. Nein, mit dem Karneval oder der Fastnacht habe das nichts zu tun. Fallas sind eine eigene Tradition in Valencia. In der Garage, vor der die Männer sitzen, hängen Fotos der letzten Fallas, Vereinsbanner und andere Erinnerungsstücke.

Der Weg zurück in die Stadt führt über den zweispurigen Radweg unter Palmen die Avenida Blaso Ibanez bis zu den Königlichen Gärten, dann hinunter in den Fluss, der keiner mehr ist. Zwölf Kilometer lang ist das grüne Band, das die Valencianer einer Naturkatastrophe  und ihrer Beharrlichkeit verdanken. Jahrhunderte lang überflutete der Turia-Fluss Valencia immer wieder. 1957 stand das Wasser in der Altstadt bis zu fünf Meter hoch. Die Regierung in Madrid beschloss daraufhin, den Fluss umzuleiten.

Turia ParkIns alte Flussbett wollten die Stadtväter eine Autobahn bauen. Eine der ersten Bürgerinitiativen Spaniens setzte stattdessen einen Park durch. Heute wirbt die Stadt mit dem längsten Park des Landes. An der Strecke liegen Fußballplätze, Trimm-Dich-Anlagen, künstliche Seen, Wiesen und die Stadt der Wissenschaft und Künste: ein Ensemble aus futuristischen Glas- und Betonbauten nach Plänen des aus Valencia stammenden und in Zürich lebenden Architekten Santiago Calatrava. Nachts erscheinen die blau – weiß beleuchteten Gebäude wie urzeitliche Reptilien und andere Fabelwesen.

Größer, höher, pleite

Mehr als eine Milliarde Euro hat die Stadt der Wissenschaft und Künste mit ihrem naturwissenschaftlichen Museum, den Aquarien mit Haitunnel, Pinguinen, tropischen und arktischen Gewässern, der Oper und dem Veranstaltungszentrum angeblich gekostet. Während des Baubooms bis 2008 war den valencianischen Politikern nichts groß und teuer genug.  Die Region ließ für mehr als 300 Millionen Euro einen Flughafen bauen, auf dem nie ein Flugzeug landen wird.

Stadt der Künste und der Wissenschaft„Die sind größenwahnsinnig“, urteilt Miguelangel über die konservative Regionalregierung.: Ein neues Stadion für 280 Millionen, dessen Weiterbau niemand mehr bezahlt, halbfertige Wohn- und Büroviertel  oder die Investruinen der Hafenerweiterung, deren Erschließungsstraßen in einer staubigen Wüstenlandschaft enden.  Allein gegen Politiker der Autonomen Region Valencia liefen 300 Ermittlungsverfahren wegen Korruption, erzählt Ferrís. Aus der Not hat der Lehrer mit ein paar Freunden ein Programm gemacht: Spaniens erste „Route der Korruption und Verschwendung“ – als Rundfahrt oder Wanderung für Einheimische und Touristen.

Auch Boris, ein intellektuell wirkender Typ mit schwarzen Haaren und Bart, hat sich intensiv mit der Stadtplanung in Valencia beschäftigt. Nach dem Abi auf der deutschen Schule hat er Architektur studiert. Als er 2003 von der Uni kam waren Baufachleute gefragt. Inzwischen suchten sieben von zehn Architekten vergeblich Arbeit. Boris lebt von Renovierungsaufträgen und einem Job bei einem Energieunternehmen.

Den Größenwahn vieler Politiker erklärt er aus der Geschichte: „Spanien war immer eine arme Agrargesellschaft, weit weg von Europa.“ Die Menschen hätten den Glanz der Städte bewundert und sich an den leuchtenden Metropolen orientiert.  Valencia sei immer eine Bauernstadt gewesen. „Als mit dem Wirtschaftsaufschwung so viel Geld ins Land kam, fehlte nach 40 Jahren Diktatur die demokratische Kontrolle.“„Wir haben so viele gut ausgebildete kreative Menschen hier, aber viele erkennen ihr eigenes Potenzial nicht.“ Boris hat sich den „Guiding Architects“, dem europaweiten Netzwerk für Architektur-Stadtführungen angeschlossen. In Valencia gehen ihm die Geschichten nicht aus.

Disclaimer: Die Recherchereise wurde teilweise unterstützt von tourspain

„Weil ich Jude bin“: In Nizza versorgt eine koschere Tafel Juden in Not

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Meine Reportage in der „Jüdischen Allgemeinen“

von Robert B. Fishman

Nizza. Perle der Côte d’Azur nennt sie sich. Die Schöne, die mehrere Hunderttausend Touristen im Jahr anlockt. Paläste und teure Hotels säumen die Uferpromenade an der Baie des Anges, der Engelsbucht. Luxussanierte Stadtvillen aus drei Jahrhunderten schmücken die Boulevards in der Innenstadt. Jenseits der Bahnlinie beginnt das andere Nizza: Billige Hochhäuser aus den 60er und 70er Jahren, rußgraue Altbauten, Armut. Allein von den etwa 25.000 jüdischen Bewohnern Nizzas lebt fast jeder Zehnte von weniger als 750 Euro im Monat. Michel und Marga Grosz helfen: In einer Gasse hinter dem Bahnhof hat das Paar eine koschere Tafel eröffnet. Bedürftige bekommen hier ein komplettes Menü für zwei Euro und Hilfe in fast allen Lebenslagen.

Ein hagerer Mann hebt an einem der Tische die Hand und bittet um Ruhe. Michel Grosz erinnert mit wenigen Worten an einen kürzlich Verstorbenen. „Ihr kennt ihn alle.“  Die Menschen an den Tischen der koscheren Table Ouverte, der jüdischen Tafel, vertiefen sich ins Gebet: Kaddisch, Totengebet für einen Gast, der vielen hier zum Freund geworden ist.

Table OuverteNach dem Gedenken servieren Männer und Frauen in weißen Kitteln das Hauptgericht: Jeder bekommt seine Portion Couscous mit Merguez-Würstchen und Ratatouille-Gemüse gereicht. Jemand schenkt Wein und Wasser ein. An den freundlich gedeckten Tischen sitzen Menschen, die man anderswo in Nizza selten sieht. Mütter, die für ihre Kinder nicht genug zum Essen kaufen können oder Ältere wie der 71 jährige Micha: 1962 kam er „mit einem Koffer und 30 Francs in der Tasche“ aus Algerien. Arbeit fand er auf dem Bau, bei der Bahn und schließlich bei der Post. Trotzdem reicht seine Rente nicht für seine beiden behinderten Kinder und die blinde Frau. Ruhig und sachlich erzählt der vom Schicksal gebeugte Mann seine Geschichte. Er weiß nicht, was er ohne die Unterstützung der „Table Ouverte“ machen würde: „Ich danke diesen Menschen von ganzem Herzen für ihr Engagement.“

„Sie sind alle Menschen wie wir“, sagt Marga Grosz. Jeder erhält das gleiche Essen und die gleiche Zuwendung. „Wir wollten keine typische Armenküche“, ergänzt Gründer Michel Grosz. Weil sich der Armut meist die Falschen, die Armen, schämen, verkaufen die Grosz Essensmarken diskret in einer Ecke am Eingang. Jeder zahlt, was er kann: Zwei Euro die Armen, acht Euro Selbstkostenpreis, wer kann, gibt mehr. Dafür erhalten Mittellose ihre Essensmarke oft kostenlos. Am Tisch zeigen alle das gleiche Ticket – für Grosz eine Frage der Würde.

Michel begrüßt seine Gäste persönlich, geht immer mal wieder zu einem der Tische, um sich mit den Menschen zu unterhalten. Er kennt ihre Geschichten  – wie die von Rosi:  Mit ihren fünf Kindern lebt die 37jährige in einer Ein-Zimmer-Wohnung für 600 Euro. Ihr Mann hat sie verlassen, zahlt keinen Unterhalt. Wenn die Kinder in der Schule sind, geht Rosi putzen oder hilft alten Leuten für ein wenig Geld beim Einkaufen. Oft zahlen ihre Auftraggeber nur fünf Euro die Stunde – oder nichts. Einklagen kann sie ihren Lohn nicht: Schwarzarbeit. Jetzt soll sie noch eine Wasserrechnung von 800 Euro bezahlen. Der Vermieter repariere die Leitung nicht.

Für Notfälle hat Michel aus Spenden eine Kasse angelegt. Damit hilft er seinen Gästen, wenn sie die Miete, Strom oder Wasser nicht bezahlen können.

Auch für die Toten seiner Gemeinde sammlt Michel Grosz. Für rund 120.000 Euro hat er eine Grabstätte auf dem Nizzaer Ostfriedhof gekauft. Vor allem Gläubige quäle es, dass sie in einem anonymen Gemeinschaftsgrab bestattet würden, wenn ihre Familien ein jüdisches Begräbnis nicht bezahlen können.

Nizza ist teuer. Selbst in den günstigeren, vielerorts heruntergekommenen Vierteln im Norden kosten Mietwohnungen kaum weniger als in Paris, Tel Aviv oder München. Damit wenigstens die Kinder satt werden verzichtet Rosi oft aufs Essen. Sie sieht blass aus. Die Reparatur ihres kaputten Gebisses kann sie sich nicht leisten.

Michel Grosz hat einen Zahnarzt gefunden, der den Bedürftigen kostenlos die Zähne repariert. Drei Optiker fertigen ehrenamtlich Brillen. Ein Fleischer spendet Gutscheine für koscheres Fleisch.

„Hauptberuflicher Schnorrer“ nennt sich Michel lachend. Äußerlich unterscheidet er sich der 70jährige kaum von seinen Gästen: Kariertes Hemd unter einem schlichten dunkelblauen Pullover, einfache Hose. In der Stadt fällt er nur durch seine schwarze Kipa auf. Bedroht fühle er sich deswegen in Nizza nicht. Wenn überhaupt höre er von arabischen Jugendlichen mal dumme Kommentare. „Als ehemaliger israelischer Soldat kann ich mich wehren, falls mich wirklich mal jemand angreift.“

Seine Familie stammt aus Ungarn. 44 seiner Angehörigen haben die Shoa nicht überlebt. Seine Eltern sind rechtzeitig ins damalige Palästina geflohen. Dort kam er 1943 zur Welt. Aufgewachsen in Israel arbeitete er als junger Mann auf dem Bau in Deutschland, studierte später Betriebswirtschaft, wurde Manager und Unternehmensberater. Er hat gut verdient und zusammen mit seiner Frau Marga eine auskömmliche Rente.

Weil er „Jude ist“ widmet er sein Leben den Menschen, die „nicht so viel Glück hatten.“ Ein Jude müsse gute Taten, Mitzvot erbringen. Das Ziel sei, sein Olam Haba seine zukünftige Welt zu erreichen. Jeder Mensch besitze „ein N’Eschamá, eine Seele, mit einem eigenen Ziel, das man vielleicht in seinem vorherigen Leben nicht erreicht hat. Wenn jemand stirbt, bevor er ankommt, kehrt seine Seele in einem anderen Menschen zurück, um diese Aufgabe abzuschließen.“

Vor 14 Jahren hat Michel seine Bestimmung gefunden. Im Fernsehen sah er einen Bericht über eine achtzigjährige Dame, die in Nîmes eine Tafel gegründet hatte. „Die Frau hat mich mit ihren leuchtenden Augen und ihrer Energie beeindruckt. Ich habe sie sofort angerufen“, erinnert sich Michel. Er fuhr hin, blieb vier Tage und brachte das Konzept mit nach Nizza, wo er einen Saal der jüdischen Gemeinde für die koschere „Table Ouverte“ mietete. Im vergangenen Jahr haben sie dort 15.000 koschere Mahlzeiten verteilt. Die Hauptgerichte liefert die Küche des jüdischen Altersheims, Vor- und Nachspeisen bereiten ehrenamtliche Helfer zu. Michel ist mit dem Werk zufrieden. Jetzt fühle er sich  „schalem“, vollständig und im Schalom, im Frieden.

Der Glaube gibt ihm die Kraft für sein Engagement. Sein Hauptgesellschafter, sagt Michel lachend, „ist der große Boss da oben“ und zeigt mit dem Finger zur Decke. Der finde immer eine Lösung.

Zwischen zwölf und 20 Ehrenamtler erledigen bei der Tafel die gesamte Arbeit – von der Küche bis zur Buchhaltung. Michels Ehefrau Marga ist eine von ihnen. Sie freut sich, „nützlich zu sein“ und den Menschen in Not ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Viele der ehrenamtlichen Helfer seien gute Freunde geworden. „Wir werden nicht bezahlt. Da gibt es keine Konkurrenz untereinander.“

Die meisten Helfer der offenen koscheren Tafel in Nizza sind Rentner, aber auch ein Pilot ist dabei, der im Liniendienst fliegt. Neben Juden helfen ein paar „Gojim“ (Nichtjuden) in der Küche oder beim Servieren: Michel Fénard hat „das Glück, gesund und vermögend zu sein“. Er möchte Menschen helfen, denen das Schicksal weniger gewogen ist. „Das klassische Motiv für ehrenamtliches Engagement“, analysiert er nüchtern. Als Wissenschaftler mag er den scharfen jüdischen Geist, dem Europa viel zu verdanken habe. Hier finde er neben einer sinnvollen Aufgabe auch „Esprit und Spiritualität“.

Über die Jahre haben sich Gäste und Gastgeber kennen gelernt. Die meisten duzen sich, hören einander aufmerksam zu, lachen und genießen die Achtung voreinander.

Michel Grosz empfindet die Tafel mittlerweile als Routine. „Sie brauchen mich nur noch als Geldsammler.“ Deshalb plant er sein nächstes Projekt: Weil die Vermieter in Nizza von jedem Bewerber einen Einkommensnachweis und eine Mietbürgschaft verlangen, finden Geringverdiener und Arbeitslose kaum noch eine Bleibe. Ältere hätten gar keine Chance mehr. „Wer eine Wohnung mieten will, muss nachweisen, dass er im Monat das Dreifache der Miete verdient“, erklärt Michel. „Wenn Du 600 Euro im Monat hast und ein Ein-Zimmer-Apartment schon in einer schlechten Gegend 400 kostet, kannst du dir die Wohnungssuche sparen.“ Deshalb will Michel mit Vermögenden eine Gesellschaft gründen, die Unterkünfte mietet und an arme Wohnungssuchende untervermietet.

„Wir haben hier 400, 500 Leute die regelmäßig zum Essen kommen und noch mal so viele Arme, die da draußen umherirren.“, sagt er. Als Betriebswirt rechnet er „wie ein Geschäftsmann“. So kommt er auf ein Ausfallrisiko von 15 – 20.000 Euro im Jahr. „Für viele Reiche sind 20.000 Euro so viel wie für dich 50 Euro – oder weniger.“ Die könnten als Gesellschafter seiner gemeinnützigen Wohnungsfirma das Risiko von Mietausfällen gemeinsam tragen und Verluste von der Steuer abschreiben. Für den Einzelnen sind das keine großen Summen mehr.

Info: La Table Ouverte, 1 bis. Rue Boissy d’Anglas, 06000 Nice, Tel. +33.4.93816123, Handy: +33.6.09634150

 

Europas verschlungene Wege

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Fahnen der Mitgliedsländer der Europäischen Union (EU)Vor bald zehn Jahren habe ich auf einem Journalistentag eine Kollegin kennen gelernt, die bei einer Medienagentur in Brüssel arbeitet. So ganz habe ich damals nicht verstanden, was diese Agentur macht. Wie tauschten Visitenkarten aus und wollten in Kontakt bleiben. Seitdem bekomme ich von dieser Agentur immer mal wieder Anfragen per E-Mail: Man arbeite an einem Projekt der Europäischen Union  und brauche dafür freie Mitarbeiter. Wenn ich Interesse hätte, möge ich meinen EU-Lebenslauf auf Englisch und meinen „Letter of Motivation“, mein Bewerbungsschreiben, einreichen. Das Angebot klang interessant. So habe ich mir beim ersten und zweiten Mal noch die Arbeit gemacht und dann nie wieder etwas von dieser Agentur gehört.

Auf Nachfrage erfuhr ich dann, dass man sich bei der EU nur um das Projekt bewerbe und dafür schon die möglichen Mitarbeiter benennen müsse. Den Zuschlag habe schließlich ein anderer Bewerber erhalten.

Letzte Woche kam wieder eine dieser Mails aus Brüssel. Erst wollte ich sie gleich löschen. Dann habe ich doch geantwortet: Meinen Lebenslauf und Euro-Bewerber-Pass hätten sie ja schon und wenn sie den Auftrag tatsächlich bekämen, könnten sie sich gerne melden. Die Antwort kam prompt. Sie hätten den Zuschlag schon. Ich habe zugesagt und nun wieder nichts mehr von denen gehört. Mal schauen, wie das weiter geht.

Riga – Europäische Kulturhauptstadt 2014: Land der Lieder – Land der Bücher

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mein Beitrag im Osteuropamagazin auf WDR 5

Von Robert B. Fishman


Lettland, Riga Freiheitsbrücke

Lettlands Geschichte prägt das Programm

Mit einer Bücher- und Menschenkette ist Lettlands Hauptstadt Riga ins Europäische Kulturhauptsstadtjahr 2014 gestartet. Tausende hatten sich Mitte Januar am Freiheitsboulevard aufgereiht, um von Hand zu Hand die Büchersammlungen ihres Landes quer durch die Stadt in die 163 Millionen Euro teuere neue Nationalbibliothek zu reichen. Die lebende Bücherkette erinnerte an die Menschenkette von Tallinn über Riga nach Vilnius , mit der die drei baltischen Länder vor 25 Jahren ihre Unabhängigkeit von der untergehenden Sowjetunion verlangten. In rund 200 Veranstaltungen wird 2014 auf den reichen kulturellen Schatz der Ostsee-Anrainer aufmerksam gemacht.

Kultur als positive höhere Gewalt

„Unser Programm heißt Force Majeure, höhere Gewalt. Aber wir sprechen von einer positiven höheren Gewalt, die Kultur als positive höhere Gewalt und die kommt über uns als Individuen, als Einwohner von Riga.“

Erklärt Kulturhauptstadt-Sprecherin Anna Muhka. Lettlands bewegte Geschichte prägt das Land ebenso wie das Kulturhauptstadt-Programm.

Gints Grube führt durch das ehemalige Hauptquartier des KGB, ein von außen unauffälliges braun-graues Eckhaus in bester Lage an Rigas ehemaligem Lenin- und heutigen Freiheitsboulevard.

„Wir sind jetzt im KGB-Haus. Das wurde erst das KGB-Haus nach der Okkupation von Lettland 1940 eingerichtet; und das letzte. Mal war es in der Nazi-Zeit, 1942, für das Publikum geöffnet. Zu Propagandazwecken. Wegen der sowjetischen Barbareien, die hier passiert sind. Das hieß auch Eckhaus, hier ist diese Ecke, wo die Einwohner von Riga rein kamen, diese Kiste hier, ….  Die Kiste war dazu da, Berichte über andere Einwohner reinzuwerfen.“

Drinnen sieht es noch genau so aus, wie beim Abzug der Sowjets 1991:  Dunkle Holzvertäfelung, an der Decke hängen die Kugellampen aus den 60er Jahren, schlichte Holzstühle auf den blassen Steinfußböden, feuchte bräunlich-beige Tapeten im Flur verbreiten einen muffigen Geruch.

Grube leitet bei der Stiftung für die Europäische Kulturhauptstadt das Projekt Freiheitsboulevard, an dem das KGB-Haus liegt.

Das war hier die Kantine vom KGB. Wir werden hier eine Ausstellung einrichten, die heißt „Schicksalsmuseum“ und es werden persönliche Sachen von Rigas und Lettlands Einwohnern gesammelt, die ihrer Meinung nach ihr eigenes Schicksal im Kontext des 20. Jahrhunderts charakterisieren. Es wird mit den Sachen von Leuten eingerichtet. Eine andere Ausstellungsgeschichte heißt „Lettischer Koffer“, denn im Laufe des 20. Jahrhunderts gab es Emigrationswellen, das ist immer noch, heute, und in der Ausstellung werden die Sachen gezeigt, die Letten in ihrem Koffer eingepackt haben, wenn sie Lettland verlassen haben.

Vielen Letten ist die Geschichte ihres jungen Staates noch sehr nah, auch dem 42jährigen Gints Grube.

„Wir wohnen immer noch mit dem Gefühl, diese Geschehnisse sind nicht weit weg. Sie sind ziemlich tief in uns geblieben und das können wir als Trauma bezeichnen, wobei wir noch nicht über alle Themen diskutiert haben. Und nicht reflektiert. Wir sehen, dass die Kulturhauptstadt mit all diesen Ausstellungen und all diesen Objekten oder mit Büchern ein Impuls sein kann, wo alle diese Diskussionen und Reflektionen in Bewegung zu bringen.“

Die Aufarbeitung der Geschichte beginnt gerade erst.

„Nach der Wende 91 war es für uns sehr wichtig, über bestimmte Themen in der Geschichte Lettlands zu erzählen, zu forschen. Auch alles was die Okkupationszeit betrifft.  … Aber es gibt natürlich Themen: die Kollaboration oder die Teilnahme von manchen der Einwohner, die Kollaboration mit den Nazis hier. Und das sind Themen, über die wir eigentlich ziemlich offen reden müssen.“

Neben den schweren historischen Themen wendet sich das Kulturhauptstadtprogramm auch an die Gegenwart und die Zukunft. Kulturhauptstadt-Sprecherin Anna Muhka:

„In den Vororten wo die meisten Menschen wohnen, da sind sehr verkommene Innenhöfe. Seit wir als Stiftung 2014 tätig sind, fordern wir auf: Meldet euch bei uns, erzählt mal euren Traum von eurem Innenhof; braucht ihr Bänke für die älteren Bewohner, braucht ihr Spielplätze, Sandkästen, weil ihr viele Kinder habt. Das fördert dann auch gleichzeitig, dass die Nachbarn zusammenkommen. … plötzlich spürt man die Kraft, wie können gemeinsam etwas erreichen. Das ist für uns etwas sehr wichtiges als Bleibendes nach 2014.“

Redaktion: Rainer Krawitz

Wahrnehmungsübung für Fotografen

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eurobahnDer Verkehrsverbund bestellt ein Foto von einem Provinzbahnhof. Schöner Job: Hinfahren, Foto machen, weg, Foto bearbeiten, wegschicken, Rechnung schreiben, fertig. Allerdings hatte der Auftraggeber keine Lust, für nur ein Foto von einem Bahnhofsgebäude viel Geld zu bezahlen und ich keine Lust für nur ein Foto (= wenig Geld) so weit zu fahren. Also haben wir uns darauf geeinigt, dass ich für des Auftraggebers Archiv von dem Bahnhof gleich ein paar mehr Fotos mitbringe. Nur, was kann man auf einem langweiligen Kleinstadtbahnhof fotografieren?

eurobahn

Bahnhof Lage / Lippe

Bahnhof Lage / Lippe

Jetzt bin ich selbst überrascht, was es alles zu entdecken gibt, wenn man lange genug an einem Platz bleibt und einfach nur genau hinsieht: Alte Emailleschilder, Züge, die ankommen und abfahren, ein Fahrgast, der mit der Technik des Fahrkartenautomaten kämpft, Jugendliche, die auf den Bus warten,  Züge, die Fahrräder mitnehmen, …. . Alles Alltagssituationen, die ich im normalen Leben nie beachten würde. Schließlich war ich mit der Ausbeute zufrieden und der Auftraggeber auch. Der vermeintlich langweilige Alltag bietet überraschende Entdeckungen….

Going Israel

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Wandzeichnung in Yafo

Nach längerer Zeit bin ich in der zweiten Februar-Hälfte wieder in Israel (Raum Tel Aviv)  auf Recherchetour, u.a. für eine neue Folge meiner Stadtentdeckungen im Globetrotter-Magazin. Ich freue mich auf Ihre / Eure Themen-, Text- und Fotowünsche. Litra’ot, bis bald